Sonntag, 12. Februar 2017
Inseln
»Das herrschende System nennt sich Kapitalismus. Hier werden nun sozialistische Inseln eingefordert. Solche sind tatsächlich machbar, etwa in Form von Genossenschaften oder wie bei der unweit gelegenen Schaubühne Lindenfels als gemeinnützige Aktiengesellschaft. Selbstorganisation geht tatsächlich, fordert aber viel Engagement und Verantwortung ab.«

aus: Jens Kassner, »Schlachtenlärm ums Westwerk«

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Montag, 16. Januar 2017
Gentrifizierung für Fortgeschrittene


























Alle Ruinen sind schon längst im Umbau oder bezogen von Menschen, die sich ein Leben zwischen glänzender Küche und schickem Parkett vorstellen. Es gibt nichts zu sagen gegen Zentralheizung oder warmes Wasser aus der Wand oder gar Parkettboden.

Die Spielplätze sind nun trostlosen Boxen mit bunten Plastikaufzügen gewichen, die in der allgemeinen Wahrnehmung als Spielplätze angesehen werden. Manchmal sind die Fassaden der alten Spielplätze geblieben, industriell-militärischer Klinkerbau mit hohen Zäunen und feinstem Rasen.

Vor 1½ Jahren im Herbst war es ein Ort, wo Menschen hingingen, wenn sie nicht mehr leben wollten, um dann Wochen später von Hobbyfotografen gefunden zu werden, die diese Orte als ihre Spielplätze ansehen.

Den Weg zum versteckten Eingang der Alten Heeresbäckerei fand ich mühelos, obwohl ich noch nie da war. Ich weiß, wo andere ihre Löcher in Zäune schneiden oder Mauern aus der Verankerung reißen, ohne sie jemals dabei gesehen zu haben oder je selbst dieser Tätigkeit nachgegangen zu sein.

Letztes Jahr im Sommer war ich ausgerechnet in dieser Gegend zu Besuch. Auf dem Rasen einer der Boxen kroch ein Mann an seiner Terrasse entlang und schnitt den Rasen mit einer Schere ab, denn an dieser Kante konnte der Rasenmäher, der sonst so gut seine Arbeit verrichtet hatte, nichts ausrichten. Vielleicht ist das das Glück, was er immer gesucht hatte.

Сталкер.

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Donnerstag, 27. Oktober 2016
Margarethe

Eines Morgens stand Margarethe auf und beschloss, nicht zu sterben.

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Mittwoch, 28. September 2016
Eigenkultur-Schock
Ich war aus dem Südkaukasus zurückgekehrt.

Ich fand so vieles in Deutschland unerträglich. Und besonders die Angst war mir unerträglich. Ihre Angst, die Stelle zu verlieren. Sich dafür auf Arbeit zu schleppen. Obwohl sie krank sind. Oder schon lange nicht mehr können. Ihre Angst vor dem Chef. Ihre Angst vor den Kollegen. Ihre Angst vor allem. Alles brav ertragend.

Ich wurde unerträglich, denn ich es sagte es ihnen. Ich sprach zu ihnen, zu ihrer Angst. Mit den falschen Worten. Denn gefangen waren sie in ihrer Angst. Trotz des Lebens in einem der reichsten Länder der Erde. Welcher Reichtum?

Ein halbes Jahr dauerte es. Fachterminus unter Anthropologen und Experten der interkulturellen Kommunikation: Eigenkultur-Schock.

Einmal schrie mich einer an: »Dann geh doch zurück!«

Aus Gründen ergab sich dies nicht.

Im Südkaukasus – Armut auf dem Land, Hochgebirge, schlechte medizinische Versorgung, subtropische Früchte, Frauenhass, Alphabete, im November am Schwarzen Meer sommerliche Gefühle, der Sohn als kleiner Prinz, Langsamkeit, Umweltverschmutzung, Ruinen, თონის პური, heiße Quellen, …

Irgendwann war das halbe Jahr vorüber und ich wieder akkulturiert.

Ihre Angst starre ich verständnisvoll an. Rede mit neuen Worten zu ihnen.

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Donnerstag, 1. September 2016
Ukrainische Fragmente












Auf dem Friedhof unterhalten sich die Geister auf Ukrainisch, Polnisch, Hebräisch, Russisch, Deutsch.





Der Krieg ist nicht weit und von allen Seiten ruft man den jungen Menschen zu, sich der einen oder anderen Ideologie zu verschreiben. Weißer als weiß, so glauben sie zu sein. Ob beim Fußball oder an der Front.



Die Stadt fühlt sich voll an. Im Bus ist es eng. In der Straßenbahn. Auf den Straßen. Alles drängt sich.



Auf dem Land gibt es noch Spuren. Bloodlands, flüstert Herr Snyder. Als ich den Abschnitt seines Buches, der den Holodomor behandelt, las, bekam ich Hunger, ging hinüber in die Küche, nahm das Brotmesser und begann das Brot, dann den Finger zu schneiden. Notprogramm.





Auch in den kleinen Orten wird an die nationale Einheit appeliert.



















Die EU-Außengrenze unterteilt die Menschen in eine große Traube Ukrainer und uns, die nur kurz warten müssen mit Pass- und Kofferkontrolle.



Du sagst, es sei seltsam, dass in allen Ländern, die ich gern besuche, ein mehr oder minder offener Krieg herrsche. »Divide et impera.« Das ist eine russische Strategie, aber wahrscheinlich habe ich einfach nur einen schlechten Geschmack.

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